Rückblick auf die vergangenen Meisterkurse

Sommerkurs 2021

Was war die ‚ganze‘ Natur? Von Herder bis Haraway

Leitung: Prof. Dr. Eva Geulen (Berlin)

29. August bis 3. September 2021

Ausschreibungsflyer

Mit dem Anthropozän und den jüngsten Entwicklungen im Bereich der Digitalität steht die moderne Leitunterscheidung zwischen Kultur und Natur neu und radikaler auf dem Prüfstand. Die im 18. Jahrhundert folgenreich von Kant gezogene Grenze war allerdings damals noch durchlässig genug für vielfältige Interferenzen und Dialektiken, besonders prominent in der Ästhetik seit Baumgarten und im Bildungsbegriff. Aber die beträchtlichen Spielräume dieses Dualismus sind in jüngster Zeit so geschrumpft, dass manche eine „Ökologie ohne Natur“ (Morton) fordern, andere eine umfassende Kulturalisierung als Zug der Zeit ausmachen (Reckwitz) und wieder andere eine neue Idee des Terrestrischen einfordern (Latour). Environmental Humanities, Eco-Criticism, Animal und Plant Studies bezeugen, dass sich unser Blick auf die klassisch-romantische Epoche unter dem Eindruck gegenwärtiger Krisen und Umbrüche verändert hat, uns manches ferner, anderes überraschend nahe gerückt ist. Wir werfen einen Blick zurück auf klassische Texte jener Zeit, in denen es um die Nahtstellen zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Natur geht, und konfrontieren sie mit jüngeren Überlegungen.

 

Prof. Dr. Eva Geulen ist Direktorin des Leibniz-Zentrums für Literatur-und Kulturforschung und Professorin für Europäische Kultur- und Wissensgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie studierte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Johns Hopkins University in Baltimore, wo sie 1989 promoviert wurde. Im Anschluss wirkte sie u. a. an der University of Rochester, der New York University, der Universität Bonn und der Goethe-Universität Frankfurt a. M. Ihre Forschungsarbeiten sind an der Schnittstelle zwischen Literatur, Wissenschaftsgeschichte und Philosophie angesiedelt. So setzte sie sich beispielsweise mit Goethes Morphologie und deren Rezeption, mit Erziehungsdiskursen um 1800 und 1900 sowie mit dem ästhetischen Formbegriff auseinander. Eva Geulen ist Vorstandsmitglied der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin, Mitglied des Herausgeber-Teams der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Hannah Arendts und Mitherausgeberin der Zeitschrift für deutsche Philologie.

Neuere Schriften in Auswahl:

Aus dem Leben der Form. Studien zum Nachleben von Goethes Morphologie in der Theoriebildung des 20. Jahrhunderts (mit Eva Axer und Alexandra Heimes), Göttingen 2021

Aus dem Leben der Form. Goethes Morphologie und die Nager, Berlin 2016

Giorgio Agamben zur Einführung, 3. ergänzte Auflage, Hamburg 2016

Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 2016

Worthörig wider Willen. Darstellungsproblematik und Sprachreflexion bei Adalbert Stifter, München 1992

In Vorbereitung:

Formen des Ganzen (hrsg. mit Claude Haas), erscheint voraussichtlich Ende Dezember 2021

Meisterkurs 2020

Aufklärung über Gefühle

mit Ute Frevert, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

Programmflyer

Meisterkurs 2018

Kosmopolitismus. Eine Idee und ihre Geschichte seit der Aufklärung

mit Jürgen Osterhammel, Universität Konstanz

Programmflyer

Seit der Antike gibt es in Europa eine universalistische Denktradition, die zu unterschiedlichen Zeiten verschieden starken Anklang fand, aber niemals völlig verschwand. Der aus dieser Tradition resultierende Kosmopolitismus oder Weltbürgergedanke ist in den letzten Jahren erneut ausgiebig diskutiert worden. „Kosmopolitismus“ wurde zu einem Zentralbegriff der Sozialwissenschaften und zu einem wichtigen Thema der Philosophie. Die damit verbundene politisch-moralische Haltung erscheint vielfach als naheliegendes Komplement von „Globalisierung“ in der realen Welt. Zugleich sind „kosmopolitische Eliten“ zur Zielscheibe von nationalistisch-populistischen ebenso wie kapitalismuskritischen Angriffen geworden. Kosmopolitismus steht erneut – wie schon mehrmals in den vergangenen Jahrhunderten – unter Rechtfertigungsdruck.

Der Meisterkurs war vorwiegend ideengeschichtlich ausgerichtet. Er setzte zeitlich um 1770 an, also in der „Spätaufklärung, als die Wünschbarkeit von Kosmopolitismus unter europäischen Intellektuellen nahezu unbestritten war, aber auch die praktischen Schwierigkeiten einer allgemeinen Menschheitsverbrüderung deutlich zutage traten. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert differenzierte sich der ‚klassische‛ Kosmopolitismus aus, und es entstanden Strömungen wie eine – heute erneut aktuelle – Freihandelslehre oder grenzüberschreitende internationalistische Bewegungen (Sozialismus, Pazifismus, Feminismus, eine humanitär motivierte Kolonialkritik). Abschließend wurde erörtert, ob es sinnvoll ist, ganze Gesellschaften als „kosmopolitisch“ zu bezeichnen, und welche Ausprägungen weltbürgerliche Vorstellungen außerhalb der europäischen Tradition gefunden haben.

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Meisterkurs 2016

Kulturelles Gedächtnis. Praktiken des Erinnerns und Vergessens

mit Aleida Assmann, Universität Konstanz

Programmflyer

Die Idee, dass Kultur und Gedächtnis eng miteinander zusammenhängen, ist keineswegs neu. „Auf dem Gedächtnis beruht das Bewusstsein der Person von ihrer Identität über allem Wechsel. Die literarische Tradition ist das Medium, in dem der europäische Geist sich seiner selbst über die Jahrhunderte hinweg versichert. Erinnerung (Mnemosyne) ist nach dem griechischen Mythos die Mutter der Musen. Die Kultur ist Erinnerung an die Weihen der Väter“. Mit diesen Worten hat E.R. Curtius nach der Katastrophe und tiefen Zäsur des Zweiten Weltkriegs die Kontinuität literarischer Traditionen beschworen.

Der Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“, wie er in den 1980er Jahren neu konzipiert wurde, folgt einem anderen theoretischen Ansatz. Er diente nicht mehr der Beschwörung von Traditionen, sondern erlaubte es, die Untersuchung von Kultur als „nicht vererbbares Gedächtnis eines Kollektivs“ (Jurij Lotman, Boris Uspenskij) auf eine neue Grundlage zu stellen. Seither steht der Begriff „kulturelles Gedächtnis“ für ein breites und weit verzweigtes kulturwissenschaftliches Forschungsprogramm, das Fragen nach Institutionen und Praktiken, nach Medien und Strategien im Umgang mit der Überlieferung aufwirft.

Der Meisterkurs in Weimar warf einige Schlaglichter auf diesen Komplex. Dabei kamen Themen wie die Kanonisierung von Klassikern, Institutionen des Sammelns (Archive, Bibliotheken und Museen) und die Bedeutung von Emotionen beim Aufbau des kulturellen Gedächtnisses ebenso zur Sprache wie Funktionen des Vergessens.

Der Meisterkurs wurde gefördert durch die ZEIT-Stiftung.

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Meisterkurs 2015

Goethes Poetik der Form

mit David E. Wellbery, University of Chicago

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Goethes Formdenken bildet im Rahmen der neuerdings wieder sehr breit geführten literaturwissenschaftlichen Formdiskussion einen wichtigen Bezugspunkt. Dabei finden vor allem Goethes naturwissenschaftliche Schriften eine starke Resonanz, während die ästhetischen und kunstkritischen Texte nur punktuell in den Blick geraten. Auch die Verwirklichung des Goethe’schen Formdenkens im dichterischen Werk ist bislang lediglich ansatzweise thematisiert worden.

Mit der Umschreibung dieses Desiderats ist bereits die Zielsetzung dieses Meisterkurses angedeutet: Anhand exemplarischer Einzeluntersuchungen soll Goethes Formdenken hinsichtlich seiner literarischen Praxis beleuchtet werden. Hierbei darf vorausgesetzt werden, dass Goethes Theorie nicht statische Verhältnisse (etwa Symmetrie) avisiert, sondern die innere Einheit von dynamischen Prozessen zu erfassen versucht. Gestaltenlehre, so formuliert Goethe prägnant, ist Verwandlungslehre. Diese These erweist sich als plausibel, wenn man etwa das Werden einer Pflanze betrachtet. Wie aber ist sie bei der Analyse eines Romans oder eines Dramas fruchtbar zu machen? Und was lässt sich für das Verständnis von Goethes eigenen Werken gewinnen, wenn diese mithilfe eines prozessualen Formbegriffs beschrieben werden?

Um auf die skizzierten Fragen eine der Vielfalt literarischer Formprozesse angemessene Antwort zu finden, werden im Rahmen des Weimarer Meisterkurses verschiedene Werke von Goethe und seinen Zeitgenossen auf ihre immanente Poetik hin befragt. Ideen- und wissenschaftsgeschichtliche Ausgriffe kontextualisieren Goethes Formdenken, in dessen Horizont sich natur- und kunstwissenschaftliche Analyseverfahren verschränken.

Der Meisterkurs wurde gefördert durch die ZEIT-Stiftung.

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Meisterkurs 2014

Orient − China − Amerika. Bilder der außereuropäischen Welt im Zeitalter der Aufklärung

mit Thomas W. Gaehtgens, Getty Research Institute, Los Angeles

Programmflyer

Durch Handel und Expeditionen erhielt das Wissen über fremde Kulturen im europäischen 18. Jahrhundert gegenüber früheren Epochen eine neue Grundlage. Reiseberichte und ihre Illustrationen sowie der Import von Produkten aus fernen Ländern vermittelten ein genaueres Bild anderer Lebensweisen und kultureller Traditionen. Literatur, Kunst und Kunstgewerbe verdankten dieser Begegnung entscheidende Anregungen. Das Zeitalter der Aufklärung vollzog den Schritt von der Wahrnehmung des Fremdartigen als Kuriosum zu gewissenhaftem Studium der anderen Kultur. Für die Kunst- und Wunderkammern der Fürstenhöfe und Universitäten wurden neue Ordnungskriterien entwickelt. Es entstand das enzyklopädische Museum, das die zunehmend professionelle Auseinandersetzung mit fremdartigen Sammlungsobjekten förderte und zugleich eine erweiterte Sicht auf die Welt und ihre Völker begünstigte. Ein besonderes Augenmerk des Weimarer Meisterkurses gilt der Frage, wie Bilder zur Wahrnehmung fremder Kulturen in Europa beigetragen haben, gleichzeitig das Verständnis der eigenen Begrenztheit förderten und eine kosmopolitische Sicht auf die Welt ermöglichten.

Der Meisterkurs wurde gefördert durch die ZEIT-Stiftung.

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Meisterkurs 2013

Aufklärung und Romantik: Widerspiel und Steigerung?

mit Günter Oesterle, Justus-Liebig-Universität Gießen

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Der Meisterkurs beschäftigte sich mit dem spannungsvollen Verhältnis von Aufklärung und Romantik. So nutzte er die Chance, das komplexe Gebilde Aufklärung in seinen Anschluss-, Radikalisierungs- und Revisionsmöglichkeiten zu studieren und gleichzeitig die Romantik aus neuer Perspektive zu betrachten. Besonders aufschlussreich hierfür sind die Versuche romantischer Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Aporien der Aufklärung aufzuspüren und einer neuartigen Lösung zuzuführen oder bislang Marginalisiertes ins Zentrum zu rücken. In gemeinsamer Diskussion sowie Text- und Bildanalyse wurde während des Kurses beleuchtet, wie, wann und auf welche Weise die behutsamer agierende Aufklärung gegenüber der radikaler auftretenden Romantik an Kontur gewann.

Exemplarisch wurden dazu vier signifikante Verschiebungen von der Aufklärung zur Romantik verhandelt: Zum einen die verschiedenartigen Konzepte des Geselligen und Populären, zum zweiten die Diskussion um unterschiedliche raumästhetische Konzepte, zum dritten die Ornamentdebatte und zuletzt – als Beispiel eines Gattungsdiskurses – die gesamte Bandbreite der Märchenformationen vom Feenmärchen über das Kunstmärchen bis hin zum Buchmärchen der Brüder Grimm. Dabei wurde dem formkonstitutiven Aufgreifen und ästhetischen Verarbeiten verschiedener Wissensformationen im Imaginationsfeld der Märchen, wie etwa der Pädagogik, der Anthropologie, der Psychologie, der Naturphilosophie und der Ethnographie, besondere Aufmerksamkeit gewidmet.

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Meisterkurs 2012

Was heißt Aufklärung im 21. Jahrhundert?

mit Susan Neiman, Einstein Forum Potsdam

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Als historische Bewegung wird die Aufklärung vielerorts studiert, als gegenwartsrelevantes Ideenfundament einer Gesellschaft eher verpönt. Sowohl in den Feuilletons als auch in der Philosophie werden ähnliche Vorwürfe wiederholt: die Aufklärung hielte die menschliche Natur für vollkommen, den Fortschritt für zwangsläufig, die Vernunft für unbegrenzt, die Wissenschaft für unfehlbar, den Glauben für eine abgegriffene Antwort auf Fragen der Vergangenheit und die Technik für eine Lösung aller Probleme der Zukunft. Sofern diese Einwände nicht ausreichen, um die Relevanz der Aufklärung für heutige Probleme anzuzweifeln, wird noch hinzugefügt, sie sei Herrschaftsinstrument des europäischen Imperialismus.

Der Meisterkurs hat diese Vorwürfe sowohl historisch, anhand ausgewählter Texte, als auch philosophisch untersucht. Dabei galt es, die Werte der Aufklärung in ihrer heutigen Bedeutung herauszuarbeiten.

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Meisterkurs 2011

Extreme und Explosionen der europäischen Aufklärung. Diderot – Lichtenberg – Mozart – Goya

mit Hans Ulrich Gumbrecht, Stanford University

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Seit Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung hat man die Leistungen der kanonisierten Vernunft in zunehmendem Maße von ihren Grenzen her zu denken versucht. In diese Tradition stellte sich auch der Meisterkurs mit Hans Ulrich Gumbrecht: Er interpretierte die intellektuelle und ästhetische Produktivität der Aufklärung nicht aus dem Blickwinkel ihrer Selbstlegitimation, sondern fokussierte anhand von vier paradigmatischen Fällen ihre Selbstkritik. Während Lichtenbergs Sudelbücher und Diderots Rêve de d'Alembert die Grenzen der Aufklärung vermessen und mit ihrer Überschreitung spielen, dringen Mozarts Kompositionen und Goyas Radierungen erstmals bis zu einer ‚aufgeklärten‛ Explosion der Aufklärung vor. In ihren Werken verschärft sich der kritische Impuls zu einem Rausch der Selbstzerstörung, so dass Logik und Transparenz der Aufklärung in ihr dunkles Gegenteil umschlagen. Dieser thematische Ausgangspunkt des Meisterkurses markierte eine provozierende These, die nicht bloß ausgelegt und bestätigt werden wollte, sondern zum experimentellen Denken einladen sollte.

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Meisterkurs 2010

Moral, Religion und Staat im Zeitalter der Aufklärung

mit Otfried Höffe, Eberhard Karls Universität Tübingen

Programmflyer

Die Epoche der Aufklärung, nach Kant das „eigentliche Zeitalter der Kritik“, problematisiert die seit der Antike gültigen Ansichten vom Menschen und stellt ihnen das Ideal einer selbstbestimmten, allein den Forderungen der Vernunft verpflichteten Lebensführung entgegen. Namhafte Denker reflektieren dieses Autonomieideal und setzen sich im Sinne einer „freien und öffentlichen Prüfung“ mit seinen Konsequenzen für Moral, Religion und Staat auseinander.

Der Meisterkurs untersuchte das spannungsreiche Verhältnis zwischen Moral, Religion und Staat, indem er sich zwei herausragenden, nach Methode und Inhalt ihrer Kritik grundverschiedenen Aufklärern widmet: Thomas Hobbes, dessen Werk am Beginn der Frühaufklärung steht, sowie Immanuel Kant, der die Aufklärung zu ihrem Höhe- und Wendepunkt führt. Um die zur gelegentlichen Selbstüberschätzung neigende Aufklärung ihrerseits einer kritischen Prüfung zu unterziehen, richtete der Meisterkurs sein Augenmerk zunächst auf zwei Repräsentanten antiker Aufklärung: auf den Vorsokratiker Xenophanes und den Platon-Schüler Aristoteles.

Die von einem systematischen Interesse geleitete Interpretation einschlägiger philosophischer Texte bildete den Schwerpunkt des Meisterkurses, der im Wechsel von Vortrag, Gruppenarbeit und Plenumsdiskussion ethische, religiöse und politische Aspekte der europäischen Aufklärung neu perspektivierte.

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Vorhaben der Klassik Stiftung Weimar werden gefördert durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und den Freistaat Thüringen, vertreten durch die Staatskanzlei Thüringen, Abteilung Kultur und Kunst.